Interview mit Alexandre Kantorow

»Im Auge des Zyklons«

Alexandre Kantorow ist erst 22 Jahre alt, als er 2019 den berühmten Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewinnt und mit dem selten verliehenen Grand Prix geehrt wird. Und er ist der erste französische Pianist, der diesen sensationellen Erfolg für sich verbuchen konnte. Es folgt ein kometenhafter Aufstieg, Alexandre Kantorow erobert die großen Bühnen der Musikwelt, mit seinem Charme und dem einzigartigen Klang seines Spiels verzaubert er das Publikum. In der Saison 2023/24 dürfen wir Alexandre Kantorow als Artist in Residence beim Gürzenich-Orchester willkommen heißen. Mit François-Xavier Roth spricht er über seine junge Karriere, seine musikalische Prägung und über seine Liebe zur Musik von Franz Liszt und Camille Saint-Saëns.

François-Xavier Roth: Lieber Alexandre, du und ich, wir haben etwas gemeinsam: Wir wurden beide in Musikerfamilien hineingeboren. Bevor ich das Vergnügen hatte, dich zu entdecken, war ich bereits ein Bewunderer deines Vaters, der ein großer Dirigent und Geiger ist. Der Name Kantorow ist mir also seit Ewigkeiten vertraut. Wie war es für dich, in einer Musikerfamilie aufzuwachsen?

Alexandre Kantorow: Ich glaube, es kommt ganz darauf an, wie deine Eltern dich erziehen und in welchen Bereichen sie dir Platz zur Entwicklung geben. In dieser Hinsicht hatte ich viel Glück, denn meine Eltern hatten wahrscheinlich sogar ein bisschen Angst, dass ich auch Profimusiker werden würde. Sie wussten, dass es ein zweischneidiges Schwert sein kann, wenn Kinder dieselbe Laufbahn verfolgen wie ihre Eltern. Lange Zeit lebten wir daher nicht wirklich in der Musikwelt. Ich bin in der Peripherie aufgewachsen und habe normale Schulen besucht. Vergnügen am Klavierspiel hatte ich schon immer, weil wir ein Klavier zuhause hatten, und ich liebte dieses Instrument schon früh. Meine Eltern ließen mich also tatsächlich in einer Welt aufwachsen, wo Musik eher intuitiv und spielerisch angegangen wurde. Als ich dann erwachsen wurde, wuchs meine Liebe zur Bühne. Ich wollte wirklich aufs Podium und spielen.

FXR: Du bist in der Nähe von Paris groß geworden?

AK: Tatsächlich sind wir ständig umgezogen, aber niemals weit weg von Paris. Ich habe zum ersten Mal während des Gymnasiums in Paris gewohnt, und das war eine große Umstellung, weil ich eine Spezialmusikschule besuchte. Wir haben dort gemeinsam die Freuden des Musizierens entdeckt: die ersten Konzerte, ein bisschen Adrenalin. Plötzlich war ich in eine Welt von Musikerinnen und Musikern hineingeworfen.

FXR: 2019 hast du den berühmten Tschaikowsky-Wettbewerb gewonnen. Wie ist das, plötzlich entdeckt zu werden und von einem Tag auf den anderen einen vollen Konzertkalender zu haben, mit so prestigeträchtigen Auftritten, wie du sie seitdem absolvierst?

AK: Das ist ganz seltsam, und vermutlich habe ich es immer noch nicht wirklich verarbeitet. Natürlich weiß man, wenn man sich zu einem Wettbewerb anmeldet, dass Karrieren sich von einem Tag auf den anderen verändern können. Aber es ist noch einmal etwas ganz anderes, sich genau in dieser Lage zu befinden, denn es ist wie im Auge des Zyklons. Es geschehen unheimlich viele Dinge um dich herum, und gleichzeitig glaube ich, dass ich eine Menge psychologische Abwehrmechanismen aktiviert hatte, einfach um mich konzentrieren und das, was ich tue, genießen zu können. Seltsamerweise begriff ich erst, als Covid fast 9 Monate nach dem Wettbewerb begann, wie unvorbereitet ich auf dieses neue Tourneeleben war. Ich war sehr hektisch, extrem müde, lebte sehr ungesund. Dann hatte ich plötzlich Zeit, um die Anforderungen dieser Karriere anzuschauen und zu begreifen, wie ich mich organisieren musste. Ich verstand, was passiert war und wo ich hinwollte. Und ich hatte Zeit, um neues Repertoire zu lernen und solider zu werden

FXR: Du hast zahlreiche Termine mit großen Orchestern, mit großen Dirigentinnen und Dirigenten, außerdem spielst viel Kammermusik. Wie ist es, in deinem Alter all diese Musik zu verdauen? Brauchst du Zeit? Baust du Wochen in deinen Kalender ein, in denen du nur übst?

AK: Manchmal lerne ich Repertoire sehr schnell, weil ich muss. Ich kann die Noten spielen, ich kann Ideen entwickeln, und der Instinkt und der Druck der Bühne bringt dann etwas zustande. Aber generell braucht man eine bestimmte Zeit, in der man das Stück vielleicht gar nicht übt, aber es trotzdem lernt, es sacken lässt. Daher versuche ich jetzt meistens, ein Werk weit im Voraus zu lernen, es dann ruhen zu lassen und dann zu ihm zurückzukehren. Dieser Zyklus des Wiederholens und Lernens und Ruhenlassens ist meiner Ansicht nach das, was einem die größte körperliche Freiheit gib, so dass mich wirklich auf die Schlüsselelemente der Musik konzentrieren kann.

FXR: Wenn ich deinem Klavierspiel zuhöre, merke ich, dass es sich in klanglicher Hinsicht sehr vom Klang berühmter französischer Pianisten wie z. B. Samson François oder Jean-Philippe Collard unterscheidet. Deine Klangkultur, wo kommt die her? Denn, wenn ich das sagen darf, sie ist gar nicht typisch französisch.

AK: Für mich selbst ist das schwer zu beurteilen, aber ich würde sagen, dass diese Klangvielfalt an dem Zusammentreffen verschiedener Kulturkreise liegt: Ich bin mit einer Mischung aus französischen und russischen Lehrern aufgewachsen. Igor Lazko und Rena Shereshevskaya, mit der ich heute immer noch arbeite, entstammen einer Zeit in Moskau und St. Petersburg, zu der der Lehrer wichtiger war als der Student. Für mein Gefühl wurde da eine sehr starke Bindung zwischen Lehrer und Schüler entwickelt, eine Eigenheit, die bis auf die Zeit Rachmaninows zurückgeht. Es geht um eine sehr spezielle Traditionslinie, die intakt ist und die sich sehr auf den Klang konzentriert. Aber auch Persönlichkeiten wie Pierre-Laurent Aimard, der ein musikalisches Genie am Klavier ist, eine schöpferische Welt im Kopf hat und eine manische Energie besitzt, die alles, was er tut, wirkungsvoll und energiegeladen macht, haben mein Spiel geprägt. Ich habe das Gefühl, dass ich all diesen Lehrern zu einem guten Zeitpunkt in meinem Leben begegnet bin. Vielleicht kommt dieser gemischte Klang, den du bei mir hörst, von dieser ganzen Mixtur von Kulturen und unterschiedlichen Vorstellungen von Musik.

FXR: Es ist sehr interessant, dass du für dein Konzert mit dem Gürzenich-Orchester zwei Komponisten ausgewählt hast, die auch gute Freunde waren: Camille Saint-Saëns und Franz Liszt. Kannst du uns etwas über deine Sicht auf diese zwei Komponisten und diese zwei Klavierkonzerte erzählen?

AK: Liszt war eine Zentralfigur der Romantik. Er war einer der am besten vernetzten Musiker aller Zeiten, weil seine Kreativität alle, die ihm begegneten, berührte. Ich glaube, man kann das hören, vor allem in seinem 2. Klavierkonzert. Da nimmt er eine Idee auf, die man bereits bei Beethoven und Schubert findet, nämlich die Verbindung aller Sätze einer Sinfonie oder einer Sonate mit einem roten Faden. Auch Saint-Saëns versucht, ein Werk zu schaffen, das über die einfache Idee des Konzerts hinausgeht. In seinem 5. Klavierkonzert ersinnt er unglaublich vielfältige Arten, das Klavier klingen zu lassen. Ich habe nie ein Stück gesehen, das solche fast buddhistischen Momente hat, in denen der Komponist Mittel und Wege findet, die Harmonien aus dem Klavier erwachsen zu lassen. Beide Werke bieten ungewöhnlich viel Raum für den eigenen Ausdruck, aber auch für das Spiel mit dem Orchester und die Reaktion darauf.

FXR: Und was bedeutet dir diese Residenz beim Gürzenich-Orchester?

AK: Diese Residenz ist mir unglaublich wichtig. Vor allem heute, wo wir schnell von einem Ort zum anderen reisen und selten die Zeit haben, ein Orchester wirklich kennenzulernen, mit ihm zu arbeiten. Dieses Gefühl einer Verbindung, die durch wiederholtes Spiel mit einem Orchester – und auch mit dir – entsteht, ist eher selten und sehr wertvoll. Das ist für mich etwas Besonderes. Wenn ich an Köln denke, fällt mir das Doppelkonzert von Brahms ein, das vom Gürzenich-Orchester uraufgeführt wurde, ein absolutes Lieblingsstück von mir. Ich bin sehr neugierig auf den Klang des Orchesters, und natürlich ist die Kölner Philharmonie wunderschön. Ich bin sehr gespannt, wo uns das alles hinführt.

FXR: Ich weiß jetzt schon, dass du die Herzen unseres Publikums erobern und mit deiner Musik begeistern wirst. Daran habe ich keinerlei Zweifel. Wir werden eine wunderbare Zeit zusammen haben!

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