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„Man wird Zeitzeuge – das ist ein großes Geschenk“

Ein Gespräch mit Dominique Horwitz über Arnold Schönberg und seine Rolle im Werk „Ein Überlebender aus Warschau“
19. Mai 2025

Herr Horwitz, wie kam es zu Ihrer ersten Begegnung mit Arnold Schönbergs Musik?
Der Sender ARTE hat anlässlich Arnold Schönbergs 150. Geburtstags einen Film produziert. Ich durfte darin die Rolle Schönbergs übernehmen und aus seinen Briefen und Tagebüchern zitieren. Das war meine allererste Auseinandersetzung mit diesem Komponisten – noch bevor ich Ein Überlebender aus Warschau in der Elbphilharmonie in Hamburg aufgeführt habe.

Was hat Sie an Schönberg besonders beeindruckt?
Ich habe damals erst wirklich verstanden, was für ein Genie dieser Mensch war. Was für ein großer Mann – und was für eine Lücke er hinterlassen hat! Er gehört zu den Persönlichkeiten, denen man wahnsinnig gern begegnet wäre. Und das nicht nur wegen seiner Musik: Schönberg war auch Erfinder und Maler – ein unfassbar schöpferischer, gebender Mensch.

Wie haben Sie sich dem Werk Ein Überlebender aus Warschau genähert?
Als ich das Stück zum ersten Mal hörte und mich eingehend damit beschäftigte, wurde mir bewusst, wie oft Zwölftonmusik missverstanden wird. Viele denken: „Das ist unverständlich – was will mir der Komponist sagen?“ Aber das ist ein Irrtum. Diese Musik ist extrem plastisch, voller Dramatik – sie ist überwältigend. Es ist zum Ohnmächtigwerden, so groß ist das.

Was macht die Rolle des Sprechers in diesem Werk so besonders?
Der „Überlebende“ ist ein vertonter Text – aber nicht so, wie man das sonst kennt, dass der Sprecher die Musik begleitet. Hier ist es umgekehrt: Die Musik dient dem Text. Deshalb halte ich es für sinnvoll, dass die Rolle von einem Schauspieler übernommen wird, nicht von einem Sänger. Hier schildert ein Mensch seine Erlebnisse. Es geht nicht nur darum, der Partitur gerecht zu werden, sondern dem Bericht Leben einzuhauchen.

Wie bereiten Sie sich auf eine solche Rolle vor?
Für den Sprecher ist das ein Achttausender, den man erklimmen muss. Es gibt nur einen Weg: Fleiß. Ich habe fast ein halbes Jahr daran gearbeitet – alle verfügbaren Aufnahmen gehört, einzelne Passagen zusammengeschnitten und wieder und wieder gehört, bis ich den Text auswendig konnte. Im Konzert arbeite ich nur mit dem Text, nicht mit der Partitur. Für mich ist das der einzige Weg, dem Werk gerecht zu werden.

Das Werk ist in drei Sprachen verfasst. Welche Rolle spielt das für Sie?
Schönberg hat das Stück 1947 in Boston komponiert – also in den USA, wohin er emigriert war. Der Überlebende spricht Englisch, der Feldwebel Deutsch, und das „Sch’ma Jisrael“ ist auf Hebräisch. Gerade die deutsche Sprache hat für mich eine besondere Bedeutung – besonders, wenn wir das Werk in Deutschland aufführen. Sie erinnert uns unmissverständlich daran, dass diese Verbrechen von deutschem Boden ausgingen. Die Handlung spielt zwar in Warschau, aber es waren deutsche Soldaten, die dafür verantwortlich waren.

Was macht dieses Stück für Sie so einzigartig?
Die unglaubliche Komprimiertheit. In nur sieben Minuten bekommt man einen Einblick in eine Welt, die wir oft lieber verdrängen. Dass Schönberg das in so kurzer Zeit erzählen kann, ist eine künstlerische Meisterleistung. Aber es liegen auch Trost und Hoffnung in diesem Stück. Das Glaubensbekenntnis am Ende – dieser unfassbare, fast brachiale Chor – ist von einer Kraft und einer Zuversicht im Angesicht des Todes, die mich tief berührt. Menschlicher kann ein Werk kaum enden.

Ihre Eltern sind vor den Nazis nach Paris geflohen. Fühlen Sie sich selbst auch als Überlebender?
Ich würde sagen: Letztlich ist jeder von uns ein Überlebender – weil er es jederzeit sein könnte. Das ist die Dimension dieses Werkes. Jeder kennt das Potenzial zur Unmenschlichkeit, das in uns allen steckt. Unsere Aufgabe im Leben ist es, Haltung zu zeigen. Und genau das hat Schönberg für mich exemplarisch dargestellt.

Wie führt man das Publikum an dieses Stück heran?
Man muss nichts erklären. Das Stück reißt einen vom ersten Moment an mit. Jeder ist sofort mittendrin. Man wird – zumindest emotional – zum Zeitzeugen. Und das ist ein großes Geschenk.

Wie fühlen Sie sich nach einer Aufführung?
Wenn ich es hinter mich gebracht habe, bin ich erstmal leer – aber auch wahnsinnig erleichtert. Und wenn es mir gelingt, das Publikum zu erreichen, bin ich zufrieden. Und ja, auch glücklich.

Ein Überlebender aus Warschau wird am 08./09. Juni 2025 vom Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada in der Kölner Philharmonie aufgeführt.

Das Gespräch führte Friso van Daalen