Andrés Orozco-Estrada, willkommen in Köln! Das Kölner Publikum und das Gürzenich-Orchester sind gespannt auf den neuen Gürzenich-Kapellmeister. Wie fühlen Sie sich vor dem Start?
Andrés Orozco-Estrada Ich bin voller Vorfreude und Energie, und ich habe viele Träume. Ein bisschen positive Nervosität ist auch dabei, aber vor allem große emotionale Begeisterung, dass es nun endlich losgeht und wir gemeinsam diesen Weg beschreiten. Ich fühle mich glücklich.
Ein schöner Einstieg ins Gespräch – direkt mit einer Glücksbeschwörung! In »Carmina Burana« heißt es: „O Fortuna, velut luna statu variabilis“. Das Glück wird besungen, aber auch als unbeständiges Gut beschrieben. Was bedeutet Glück für Sie im Hinblick auf das Musizieren und Ihre Zeit hier in Köln?
AOE Für mich geht es sowohl um die musikalische, als auch um die menschliche Ebene. Zwischen Orchester und Dirigent sollte nicht nur ein gutes Verhältnis herrschen, sie sollten sich auch harmonisch ergänzen. Darüber hinaus denke ich an unser Publikum: Es soll eine starke Verbindung zwischen den Zuhörer*innen und uns entstehen. Dieses Miteinander ist für mich essentiell.
Sie kennen das Gürzenich-Orchester bereits als Gast. Wie nähert man sich einem Ensemble, mit dem man nun über mehrere Jahre eng zusammenarbeiten wird?
AOE Ich dachte, ich hätte ein »Rezept« dafür oder wüsste genau, wie dieser Prozess funktioniert. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Jedes Orchester ist ein eigener Organismus mit einer einzigartigen Persönlichkeit, einer besonderen Geschichte und einer individuellen Mischung verschiedener Menschen und Charaktere. Genau das macht es spannend. Ich glaube, es ist nicht sinnvoll, sich im Voraus allzu detailliert auszumalen, wie alles ablaufen muss. Natürlich hat man Ziele, künstlerische Ideen und viele Pläne. Doch das Entscheidende ist das gemeinsame Musizieren. Es geht darum, sich Schritt für Schritt aufeinander einzulassen und etwas gemeinsam aufzubauen.
Stefan Englert, wie blicken Sie dem Beginn dieser neuen Ära entgegen?
Stefan Englert Zunächst einmal freue ich mich auf alles, was vor uns liegt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in den kommenden Jahren gemeinsam etwas Großartiges aufbauen werden. Dieses Orchester ist – wie die Stadt Köln – von einem freien Geist durchdrungen. Und genauso habe ich Andrés Orozco-Estrada kennengelernt: als jemanden, der sich die Freiheit nimmt, ganz im Moment mit dem Orchester zu arbeiten, neue Perspektiven auf das große klassische Repertoire zu entdecken und es immer wieder neu zu erfinden. Das entspricht auch der DNA des Gürzenich-Orchesters.
Es gibt 2025/26 einen Programmschwerpunkt mit Werken des englischen Komponisten Thomas Adès, dessen Musik sich gut an das große klassische Repertoire anschließt. Brahms spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle.
SE Wir werden uns in den kommenden Spielzeiten intensiv mit den Werken von Johannes Brahms beschäftigen. Zu ihm hat unser Orchester eine besondere Beziehung: Es hat 1887 das Doppelkonzert uraufgeführt, und Brahms selbst hat in Köln dirigiert. Was dieses Orchester auszeichnet, ist der kontinuierliche Versuch, seine große Tradition in die Gegenwart zu übertragen: aus Tradition innovativ. Und genau das war auch Brahms. Ich sehe Andrés Orozco-Estrada ebenfalls als jemanden, der diesen Ansatz verinnerlicht hat. Deshalb bedeutet unser Fokus auf Brahms nicht nur eine Rückkehr zu den Wurzeln, sondern zugleich auch einen Schritt in die Zukunft.
Daran anknüpfend – wie würden Sie, Andrés Orozco-Estrada, den musikalischen Geist eines Ortes wie Köln beschreiben? Sie bringen bereits viel Erfahrung als Chefdirigent mit, unter anderem aus Wien, Frankfurt, Turin und Houston. Ihre Wurzeln liegen in Kolumbien. Glauben Sie, dass der Klang eines Orchesters mit dem Ort zusammenhängt, an dem es beheimatet ist?
AOE Ja, definitiv. Nach meiner Erfahrung hängt dieser Klang natürlich in erster Linie von den Menschen ab, aus denen das Orchester besteht. Aber auch die äußeren Gegebenheiten spielen eine wichtige Rolle: die Stadt selbst, die Arbeitsbedingungen, die Probenräume – sogar das Wetter. All das beeinflusst die Atmosphäre und damit auch die Musik. Meine Aufgabe als Dirigent ist es, diese verschiedenen Elemente zusammenzuführen – wie ein Magier, der all diese Energien bündelt, um daraus etwas Eigenständiges mit Charakter und Persönlichkeit zu formen.
Stefan Englert, Sie waren an der Auswahl des neuen Gürzenich-Kapellmeisters beteiligt. Was macht diese Verbindung so ideal?
SE Alles passt perfekt. Seine Spontaneität, seine Offenheit, seine Nahbarkeit – all das prägt auch die Stadt Köln und den Charakter unseres Orchesters. Zudem beeindruckt mich Andrés Oroco-Estradas Herangehensweise an die Musik: Alles, was ich von ihm gehört habe, atmet. Es ist nah an den Menschen, nichts Elitäres, sondern Musik, die für alle da ist. Gemeinsam neue Wege zu wagen, aus dem Moment heraus etwas entstehen zu lassen und dabei die Emotionen und Gedanken derjenigen zu reflektieren, die die Musik erschaffen – das ist eine Haltung, die Andrés und dieses Orchester verbindet. Ich bin mir sicher, dass sie zusammen eine starke künstlerische Identität weiterentwickeln werden.
In der klassischen Musik gibt es oft eine gewissen Hang zur »Bubble«-Bildung – eine eingeschworene Gemeinschaft aus Stammpublikum, Eingeweihten, Liebhabern, Fans und Akteuren. Doch jenseits davon begegnen viele dieser Szene mit Staunen, Desinteresse oder bleiben ihr fern. Muss man das einfach akzeptieren oder kann – und sollte – man etwas dagegen tun?
AOE Ich denke, beides. Was wir erschaffen, möchten wir mit so vielen Menschen wie möglich teilen. Jeder sollte sich in der klassischen Musik willkommen fühlen. Gleichzeitig muss man realistisch sein: Nicht jeder kann oder will ein klassisches Konzert genießen – und das ist völlig in Ordnung. Aber damit Musik berührt, braucht es nicht nur eine gute Aufführung, sondern auch ein offenes Gegenüber. Zuhören erfordert eine gewisse Bereitschaft. Deshalb ist es unsere Aufgabe, Menschen neugierig zu machen und sie an diese Kunstform heranzuführen. Es geht um Nähe – und die kann man immer schaffen.
Die neue Spielzeit startet direkt mit dem beliebten Bürgerchor – ein starkes Zeichen für Partizipation. Die Mitglieder des Bürgerchors – Kölnerinnen und Kölner, die das Gürzenich-Orchester seit seiner Gründung tragen – gestalten ein Konzert aktiv mit. Gibt es weitere Ideen, um diese Teilhabe noch mehr auszubauen?
SE Ja, definitiv. Wir wollen unseren Bereich der Musikvermittlung erweitern und Kinder noch stärker einbinden. Es soll nicht nur darum gehen, Wissen über klassische Musik zu vermitteln, sondern junge Menschen aktiv in den musikalischen Prozess einzubeziehen. Ein weiterer wichtiger Schritt ist, verstärkt in die Stadtteile zu gehen. Wir planen Familien- und Schulkonzerte insbesondere in sozial benachteiligten Vierteln, um Musik genau dorthin zu bringen, wo sie nicht selbstverständlich ist. Als städtisch gefördertes Orchester haben wir eine klare Verantwortung. Klassische Musik kann für viele Menschen bereichernd sein. Unsere Aufgabe ist es, sie dorthin zu transportieren, wo sie erlebt werden kann.
Gibt es neben neuen Konzertformaten auch konkrete Initiativen zur Nachwuchsförderung? Ein Orchester muss schließlich dafür sorgen, dass es sich erneuert …
SE Wir werden in Zusammenarbeit mit der Kronberg Academy ein großartiges Projekt starten, das gezielt Nachwuchstalente fördert – insbesondere zukünftige Spitzensolistinnen und -solisten. Die Kronberg Academy ist eine der renommiertesten Talentschmieden weltweit. In den kommenden fünf Jahren werden wir eine enge Kooperation aufbauen.
Und wie steht es um neue Musik, um zeitgenössische Kompositionen? Es geht ja nicht nur darum, Brahms auf heutige Weise zu interpretieren, sondern auch darum, wirklich Neues zu spielen.
AOE Ich halte das für sehr wichtig. Das gehört für mich zu den essenziellen Aufgaben eines Orchesters, und es ist mir persönlich eine große Freude. Es macht unglaublich viel Spaß, neue Werke zum Leben zu erwecken. Natürlich bedeutet das auch eine Menge Arbeit: Man muss sich intensiv mit den Kompositionen auseinandersetzen, sie entschlüsseln und daraus eine intelligente, musikalisch überzeugende Interpretation formen. Aber es lohnt sich – und genau das macht es so besonders.
Mit dem Projekt Amazônia widmen Sie ein Konzert dem Amazonas und der brasilianischen Musik. Was genau steckt dahinter?
SE In diesem Projekt arbeiten wir mit dem brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado zusammen. Seine beeindruckenden Bilder dokumentieren die einzigartige Schönheit des Amazonas, aber auch die dramatischen Auswirkungen der Zerstörung der Biodiversität in dieser Region. Nachhaltigkeit – sowohl ökologische als auch soziale – ist für uns ein zentrales Anliegen. Unsere Musikvermittlungsprojekte tragen ebenfalls dazu bei. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, nicht nur musikalische Erlebnisse zu schaffen, sondern auch gesellschaftliche Themen aufzugreifen und in einen künstlerischen Dialog zu bringen. Amazônia ist in diesem Sinne ein wichtiger Schritt für uns.
Andrés Orozco-Estrada, was muss passieren, damit Sie nach einem Konzert sagen: Das war ein gutes Konzert. Ich gehe hier raus und bin glücklich?
AOE Das geschieht dann, wenn wir alle wirklich alles gegeben haben. Wenn ich fühle, dass sich jeder mit voller Hingabe in die Musik gestürzt hat, um diesen Moment lebendig zu machen. Es geht darum, die Emotion, die Energie und die Freude einer Komposition authentisch zu transportieren. Und im besten Fall entsteht daraus eine spürbare Verbindung zum Publikum – zu den Menschen, die zuhören und all das mit uns teilen.
Haben Sie bereits ein Gefühl für das Kölner Publikum?
AOE Ja, ein wenig. Mein Eindruck ist, dass es ein sehr offenes Publikum ist. Ich nehme eine große Aufgeschlossenheit wahr. Was mir besonders auffällt, ist die Ehrlichkeit des Publikums. Wenn etwas berührt, wenn die Musik nahegeht, dann ist die Begeisterung spürbar. Und wenn nicht, merkt man das genauso deutlich – und das ist vollkommen in Ordnung. So soll es sein.
Das Gespräch führte Holger Noltze.
Wir danken dem Excelsior Hotel Ernst, das uns seine Räumlichkeiten für dieses Gespräch zur Verfügung gestellt hat.