Sehnsucht, Glück und Resignation

Wunsch aller Wünsche

Der Fels von Sergej Rachmaninow

Im Sommer 1893, ein Jahr nach seinem glanzvollen Abschluss am Moskauer Konservatorium, komponierte Sergej Rachmaninow eine Fantasie für Orchester und versah sie mit der Opusnummer 7 – den späteren Namen Der Fels trug sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Reaktionen fielen nicht nur positiv aus. Bei einer Aufführung in Sankt Petersburg drei Jahre später konnte der Kritiker und Komponist César Cui (zusammen mit Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow Mitglied der berühmten Komponistengruppe »Das mächtige Häuflein«) keinen Gefallen an dem Werk finden: »Kompositorisch ist die Fantasie eine Art Mosaik, das aus mehreren kleinen Einzelteilen ohne Bezug zueinander besteht. Die Musik will ständig irgendwohin, aber kommt nirgends an.«

Mit dieser vermeintlich negativen Kritik hatte Cui den Kern des Werks allerdings genau getroffen. Erst im Vorwort zur gedruckten Partitur enthüllte Rachmaninow, dass er zu dem Stück durch das Gedicht Der Fels des russischen Dichters Michail Lermontow inspiriert worden war. Die beiden ersten Verse stellte der Komponist seiner Partitur als Epigraph voran:

Eine Wolke ließ beim Glanz der Sterne
Nachts an hoher Felsenwand sich nieder

Allein, das war noch immer nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich fiel Rachmaninows Wahl auf die Gedichtzeilen, weil Anton Tschechow eben jene Verse als Motto für seine Erzählung Unterwegs benutzt hatte. Die Metapher der flüchtigen Begegnung von Wolke und Felsen in Lermontows Gedicht spinnt Tschechow zu einer realistischen Erzählung aus, die während eines Schneesturms am Weihnachtsabend stattfindet: Eine junge Frau trifft, durch den Sturm an der Weiterreise gehindert, einen desillusionierten älteren Mann in der »Passagierstube« eines Gasthauses. Nach ihrer Abreise am nächsten Morgen bleibt der Mann einsam zurück: »Bald waren die Spuren der Kufen verschwunden, und er selbst, mit Schnee bedeckt, glich einem weißen Felsen, aber seine Augen suchten immer noch etwas in den Schneewolken.«

Banges Sehnen

Mit einem Thema, das diesen Menschenfelsen darstellt, beginnt Rachmaninow sein Stück: Es hebt im kaum hörbaren vierfachen Piano der tiefen Streicher an, rafft sich kurz auf und versinkt gleich wieder in der Tiefe. Eine aufsteigende, unwirklich flirrende Linie der Violinen und Bratschen kündigen direkt danach das Thema der jungen Wolke an wie eine Vision. Es ist eine unbeschwert auf- und absteigende Figur der Flöte, »sempre grazioso«. Wenig später stellen erst die Flöte und dann die restlichen Holzbläser das wohl wichtigste Thema vor, das man als Verkörperung der Sehnsucht und der unerfüllten Wünsche des »Felsen« deuten könnte. Um dieses letztlich vergebliche Sehnen und bange Hoffen des Felsen geht es – die Musik folgt seinen Hoffnungen und Träumen, malt sie mittels virtuoser Orchesterbehandlung in den schönsten Farben aus, aber am Ende erfüllen sie sich nicht. Schon in der Mitte des Stücks fällt das Thema der Wolke nach einem verheißungsvollen harmonischen »Doppelpunkt« (in hohen Streichern, Holzbläsern und insbesondere der Harfe) gleichermaßen in sich zusammen, wandert danach nach einem Tamtamschlag und zu Triangelgeklingel zerpflückt durch die Holzbläser und verliert immer mehr an Höhe. Der Moment, in dem schließlich alles zerstiebt, ist dann Höhe- und Umschlagspunkt zugleich.

Nach einer großen, für Rachmaninow so typischen Steigerung im ganzen Orchester und einem Erfüllung verheißenden Ritardando folgt der Zusammenbruch. Bei Lermontow heißt es:

Als der Morgen anbrach, zog sie wieder
Fröhlich fürbaß in die blaue Ferne.
Doch es blieb die feuchte Spur
Eingefurcht dem alten Felsen;
Einsam schaut er auf die Flur,
Trüb versenkt in tiefes Sinnen,
Und ein Tränenstrom entquillt
Seiner Stirn […]

Mit Bach und Mozart ins Varieté

Das Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Francis Poulenc

Das Doppelkonzert für zwei Klaviere und Orchester verdanken wir der Popularisierung eines Haushaltsgegenstandes im 19. Jahrhundert: der Nähmaschine. Francis Poulenc nämlich war mit der Mäzenin Winnaretta Singer, genannt Winnie, befreundet, der Erbin des Nähmaschinen-Imperiums ihres Vaters Isaac Merritt Singer. Winnie hatte 1893 den Prinzen Edmond de Polignac geheiratet, mit dem sie – nunmehr »Prinzessin Edmond de Polignac« – eine »mariage blanc« führte, denn die Eheleute fühlten sich eher zu Partnern desselben Geschlechts hingezogen. Zusammen gründeten sie den einflussreichen Salon de Polignac, in dem so renommierte Persönlichkeiten wie Jean Cocteau, Claude Monet und Marcel Proust verkehrten. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1901 und mit ihrem Erbe im Rücken betrieb Winnie ganz gezielt die Förderung aufstrebender Künstlerinnen und Künstler. Zu den von ihr in Auftrag gegebenen Kompositionen zählen etwa Igor Strawinskys Renard, Erik Saties Socrate, Kurt Weills 2. Sinfonie – und Francis Poulencs Konzert für zwei Klaviere und Orchester.

Madame de Polignac war eine stattliche Frau, unerschütterbar, undurchdringlich. [...] Ihr felsenhaftes Profil schien auf Nebel und Möwen zu warten. Ihr Gesicht glich eher einer Landschaft als einem Gesicht mit ihrer Wolke von Haaren, den blauen Augen, den schroff abfallenden Konturen. Wie alle fundamental schüchternen Menschen war sie selbst unendlich einschüchternd

Violet Trefusis

Von einem Konzert für zwei Klavier und Orchester war in der ersten brieflichen Anfrage der Prinzessin im August 1931 allerdings noch keine Rede: »Könnte das Stück ein Klavierstück werden, etwa in der Art des Konzerts für Landowska [gemeint ist Poulencs Concert champêtre für die Cembalistin Wanda Landowska], wenn möglich für drei Klaviere arrangiert: Ein Soloklavier und zwei als Begleitung?« Als Poulenc daraufhin ein Konzert für zwei Klaviere und Kammerorchester vorschlug, gab die Mäzenin ihr Einverständnis.

Erst im Sommer 1932 allerdings kam Poulenc auf das Werk zurück. Als er es nach zweieinhalb Monaten fieberhafter Arbeit beendete, war an die Stelle der anvisierten Begleitung mit Kammerorchester ein vollständig besetztes großes Orchester getreten. Die höchst erfolgreiche Uraufführung fand im September 1932 in Venedig mit dem Orchester der Mailänder Scala statt, Solisten waren Francis Poulenc selbst und sein Jugendfreund Jacques Février. Während dieses Aufenthalts in der Lagunenstadt logierte der Komponist an edler Adresse: Winnie hatte ihn in den prachtvollen Palazzo Contarini eingeladen, der ihr gehörte.

Humorvolles Wechselspiel der Stile

Francis Poulenc gehörte zur Pariser Komponistengruppe »Les six« um Erik Satie und Jean Cocteau. Zusammen strebten sie eine Erneuerung der französischen Musik an, lehnten Spätromantik sowie Impressionismus ab und wandten sich der Unterhaltungsmusik der Music Halls und dem Jazz zu. Poulencs Doppelkonzert verkörpert diese neue ästhetische Maxime mustergültig: Bald nach dem stürmischen Beginn des 1. Satzes vermeint man plötzlich eine Toccata im Stil Johann Sebastian Bachs zu hören, die unvermittelt von einer fröhlichen Varieté-Melodie abgelöst wird. Dieses augenzwinkernde Wechselspiel der Stile bestimmt das gesamte Konzert. Der 2. Satz startet mit einer Melodie à la Mozart, deren Vorbild Poulenc wahrscheinlich im Thema des langsamen Satzes aus Mozarts Klavierkonzert KV 537 (»Krönungskonzert«) fand. Doch beim graziösen Mozart-Ton bleibt es natürlich auch hier nicht: Wenn das zweite Klavier einstimmt, verwandelt sich das Thema in eine mild-melancholische Chansonmelodie.

Flair des Fremden

Angesichts dieses Kaleidoskops von vermeintlich unvereinbaren musikalischen Stilelementen liegt eine besondere Faszination des Werks darin, wie Poulenc trotzdem den Eindruck von Geschlossenheit erzielt. Eine wichtige Rolle scheint dabei einem weiteren musikalischen Vorbild (neben Bach und Mozart) zuzukommen: Der indonesischen Gamelan-Musik, die Poulenc 1931 auf der Pariser Kolonialausstellung kennengelernt hatte. Die Klanglichkeit dieser Musik ist einerseits durch die Verwendung von metallenen Schlaginstrumenten, andererseits durch die Umspielung immer wiederkehrender Muster geprägt. Eine entsprechend dieser Tradition in sich bewegte Klangfläche hat Poulenc in alle drei Sätze seines Konzerts integriert: Sie besteht aus den Tönen des d-Moll-Dreiklangs d – f – a samt den Nebennoten es und b und erklingt direkt nach den zwei Akkordschlägen zu Beginn des 1. Satzes. Am Ende dieses Satzes kehrt sie verlangsamt und dadurch im Charakter deutlich verändert ebenso wieder wie auch zum Schluss der anderen beiden Sätze.

Der Finalsatz des Doppelkonzerts ist eine Art Rondo – und zugleich eine funkensprühende pianistische Tour de force. Die Bandbreite der aneinandergereihten musikalischen Versatzstücke wird noch einmal erweitert: Sie reicht vom Selbstzitat (Poulenc erinnert an ein eigenes kleines Klavierstück) über Gassenhauer-Melodien und auftrumpfenden Orchesterbombast bis zu Passagen, in denen das Klavier im tiefsten Register zum Schlagzeug wird.

Seligkeit als Illusion

Die 4. Sinfonie von Peter Tschaikowsky

Bereits kurz nach seiner Hochzeit mit Antonia Miljukowa am 6. Juli 1877 schrieb Peter Tschaikowsky an seinen Bruder Tolja: »Tolitschka, gestern war vielleicht der schwerste Tag seit dem 6. Juli. Am Morgen schien es mir, dass mein Leben für immer zerstört ist, und ich hatte einen Anfall von Verzweiflung. Gegen drei Uhr versammelte sich bei uns eine Menge Menschen […]. Wir aßen zusammen Mittag. Es kam der furchtbare Moment des Tages, als ich abends mit meiner Frau allein blieb.«

Wenig später flüchtete der Komponist aus der ehelichen Zweisamkeit, kehrte wieder zurück, unternahm in neuer Verzweiflung einen Selbstmordversuch. Schließlich reiste er unter einem Vorwand zu seinem Bruder nach Sankt Petersburg, wo ein Psychiater die Trennung von Antonia vorschlug und eine Reise ins Ausland verordnete. Der Grund für die überstürzte Heirat war derselbe, aus dem die Verbindung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war: Peter Tschaikowsky sucht in einer bürgerlichen Ehe die Rettung vor seiner Homosexualität und der panischen Angst, dass diese publik werden könnte. In genau jene Zeit der schweren persönlichen Krise fällt die Komposition der 4. Sinfonie.

Mit einem Wort, der Künstler lebt ein Doppelleben: das allgemein menschliche und das künstlerische, wobei die beiden Bereiche durchaus nicht miteinander übereinstimmen müssen.

Peter Tschaikowsky 1878 an Nadeshda von Meck

Seiner engen Freundin Nadeshda von Meck versuchte Tschaikowsky den Hintergrund vor allem des 1. Satzes zu erläutern. »Im Grunde ist meine Sinfonie eine Nachahmung der 5. Sinfonie Beethovens, das heißt ich ahmte nicht ihre musikalischen Gedanken nach, als vielmehr die der Sinfonie zugrundeliegende Idee. Wie, denken Sie, hat die 5. Sinfonie Beethovens ein Programm? Natürlich hat die Sinfonie ein Programm. Es besteht darüber hinaus auch kein Zweifel, was sie bestrebt ist, zum Ausdruck zu bringen. Annähernd dasselbe liegt im Grunde auch meiner Sinfonie zugrunde, und wenn Sie mich nicht verstanden haben, dann folgt daraus nur, dass ich eben nicht Beethoven bin, woran ich auch niemals gezweifelt habe.«

Nadeshda von Meck, eine reiche Moskauer Witwe, hatte sich Ende 1876 brieflich mit einem Kompositionsauftrag an Tschaikowsky gewandt. Aus diesem Auftrag entwickelte sich eine enge Brieffreundschaft. Von Meck verbirgt sich auch hinter Tschaikowskys Widmung der Sinfonie »meinem besten Freunde«. Der metallisch gepanzerte Anfang, so schrieb er ihr, »ist das Fatum, die verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück verhindert und eifersüchtig darüber wacht, dass Glück und Frieden nie vollkommen und wolkenlos werden, eine Macht, die wie ein Damoklesschwert über unserem Haupte schwebt und unsere Seele unentwegt vergiftet.« Diesem Schicksalsthema folgt das unruhige, offenbar von diesem Fatum bedrohte eigentliche Hauptthema des Sinfoniesatzes. Das zweite, gelöstere und tänzerische Thema muss sich dieser Atmosphäre erst mühevoll entwinden: Es liegt zunächst in der Soloklarinette, hat einen etwas linkischen Charakter und wird von unwirklich vorbeihuschenden Figuren der Holzbläser und bebenden Tremoli der Streicher eingeleitet.

Nichts als Träume

Ein zunächst begleitendes, wiegendes Cantabile-Gegenthema entpuppt sich nach und nach als Hauptgedanke dieses zweiten Themenkomplexes. »In weiter Ferne«, so der Komponist, verklingt das aufdringliche erste Thema des Allegros. Und allmählich umfangen die Träume meine ganze Seele. Alles Düstere, Traurige ist vergessen! Da ist es, da ist es, das Glück! Nein! Das waren Träume. Das Schicksal reißt mich wieder in das Leben zurück. […] Schwimme über dieses Meer, bis es dich verschlingt und in die Tiefe reißt! – Das ist ungefähr das Programm des ersten Satzes.«

An markanten Stellen bricht das Fatum-Thema immer wieder unbarmherzig und geradezu gewaltsam in die Musik herein, etwa kurz vor Schluss des 1. Satzes, wo es nacheinander von verschiedenen Instrumenten gespielt wird. Wie in einem Verdrängungsprozess taucht dieses musikalische Fatum im 2. Satz mit seinem liedhaften, wunderschön melancholischen Thema ebenso wenig auf wie im 3. Dessen Pointe liegt im Einsatz der verschiedenen Instrumentengruppen: »Das Scherzo enthält einen neuen Instrumentationseffekt, auf den ich mich verlasse. Zuerst spielt der Streicherapparat im pizzicato; im Trio treten die Holzbläser hervor und spielen auch allein. Die Gruppe der Blechbläser wechselt sich mit ihnen ab und spielt auch allein; am Ende des Scherzos rufen sich alle drei Gruppen kurze Phrasen zu. Mir scheint, dass dieser Klangeffekt sehr interessant sein wird.«

Trügerischer Jubel

Doch wie so oft kehrt das Verdrängte auch hier zurück. Das Finale beginnt bombastisch, mit geradezu manisch dahinrasenden Sechzehntelnoten – manchmal liest man in diesem Zusammenhang das Wort »lärmend«. Und tatsächlich hat dieser Bombast etwas Ostentatives, nur Vorgetäuschtes. So entwickelt der zweite musikalische Hauptgedanke des Finales, das Zitat eines russischen Volkslieds, im weiteren Verlauf durchaus bedrohliche Züge, bis unerwartet das Fatum-Thema des 1. Satzes ins musikalische Geschehen platzt. Dem nochmals übersteigerten Schlussjubel ist kaum zu trauen.

Ulrich Wilker

Dr. Ulrich Wilker studierte Musikwissenschaft, Germanistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln. Ebenfalls in Köln wurde er mit einer Arbeit über Alexander Zemlinskys Operneinakter Der Zwerg promoviert. Nach mehreren akademischen Positionen wechselte er 2022 als Konzertdramaturg ans Badische Staatstheater Karlsruhe. Seit 2024 ist er Dramaturg mit Schwerpunkt Konzert am Theater Aachen.