Gewaltiger Urstrom der Klänge und Bilder

Großformatige Fotografien von Sebastião Salgado treffen in einem immersiven Konzerterlebnis auf packende Werke von Heitor Villa-Lobos

Wenn der Fotograf Sebastião Salgado in den letzten Jahren öffentlich von der Zerstörung des brasilianischen Regenwalds gesprochen hat, hielt er sich mit der Benennung der politisch dafür Verantwortlichen meist zurück. Aber Salgado musste auch gar nicht deutlich werden. Denn der Populist Jair Bolsonaro machte in seiner vierjährigen Amtszeit als Präsident von Brasilien gar kein Hehl daraus, dass er staatliche Umweltbehörden und internationale Klimaziele für lästige Störfaktoren in seinem radikal-kapitalistischen Kurs hielt. Zwischen Januar 2019 und Januar 2023 erlaubte und förderte Bolsonaro die Abholzung riesiger Waldgebiete, um landwirtschaftliche Flächen zu schaffen – mit der Folge, dass sich der Ausstoß von Treibhausgasen in kurzer Zeit drastisch erhöhte, der Wasserhaushalt gestört und die einzigartige Tiervielfalt extrem bedroht ist. »Wir haben den Regenwald zerstört«, mahnte Salgado noch bis kurz vor seinem Tod im Mai 2025. »Aber wenn wir das Gleichgewicht im Regenwald zerstören, dann vernichten wir das klimatische Gleichgewicht auf dem Planeten. Und eine Lösung für die große ökologische Krise unseres Planeten ist es, die Wälder wieder aufzuforsten.«

Für Sebastião Salgado hatte der Kampf gegen die Zerstörung der brasilianischen Landschaft auch eine autobiografische Dimension. 1944 wurde er im Südosten von Brasilien geboren und wuchs auf der Farm seines Vaters auf. Schon damals wurden zur Steigerung der Fleischerträge und des Exports unberührte Naturgebiete an Großgrundbesitzer und internationale Investoren vergeben, um die tropischen Wälder durch Rodung in Weideflächen umzuwandeln. 1969 verließ Salgado Brasilien während der Militärdiktatur und emigrierte zusammen mit seiner Frau Lélia Deluiz Wanick nach Paris. Aus dem studierten Wirtschaftswissenschaftler wurde ein namhafter Bildjournalist, der seinen Durchbruch als Fotokünstler 1986 mit Bildern über den Goldrausch von Serra Pelada erlebte. In Schwarzweißaufnahmen mit harten Kontrasten dokumentierte Salgado die katastrophalen Bedingungen der Goldsucher in einem riesigen Erdtrichter.

Kraft der Gegensätze

Schon in dieser Serie stand die rücksichtslose Ausbeutung der »garimpeiros« im Kontrast zur Schönheit der präzise komponierten, fast »choreografierten« Bilder – ein scheinbarer Gegensatz, den man Salgado gelegentlich als »Ästhetisierung des Leids« vorgeworfen hat. Er aber ließ sich in seinem Weg nicht beirren. Denn ihm lag es am Herzen, beides zu zeigen, die Schönheit und die Zerstörung, die Würde des Menschen und seine Ausbeutung, die Wunder der Natur und die unvorstellbaren Grausamkeiten des Völkermords in Ruanda.

Nach seiner Ruanda-Reportage war Sebastião Salgado körperlich und psychisch am Ende. Auf der Suche nach einem neuen Sinn seiner Arbeit kehrte er um die Mitte der 1990er Jahre nach Brasilien auf die Farm seiner Eltern zurück. Mittlerweile waren hier die Versteppung und der Raubbau an der Natur unübersehbar – Salgado entschloss sich, praktisch zu helfen. Mit seiner Frau gründete er das »Instituto Terra« und ging auf die Suche nach Geldgebern, um eine umfassende Rekultivierung des Regenwaldes in seiner Heimat zu finanzieren. Mehr als drei Millionen Bäume sind seitdem gepflanzt worden. Auf unzähligen Reisen durch die brasilianischen Regenwald-Gebiete hat Salgado neun Jahre lang die wunderbare, aber auch gefährdete Einheit von Mensch, Tier und Natur fotografiert und eine Auswahl dieser Impressionen in seinem Bildband Amazônia präsentiert. Da war er längst eine internationale Berühmtheit. Der Filmemacher Wim Wenders hatte ihm das Porträt Das Salz der Erde gewidmet und hielt die Laudatio, als Salgado 2019 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm.

Im selben Jahr haben Sebastião und Lélia Salgado eine Ausstellung mit Bildern aus dem Regenwald für die Philharmonie in Paris konzipiert. Und diesmal wollten sie das Publikum nicht nur sehen, sondern auch hören lassen: Zu den Projektionen von Salgados Fotografien erklang vor allem Musik von Heitor Villa-Lobos, dirigiert von Simone Menezes. Seitdem konnte man das immersive Amazonas-Projekt mit großem Erfolg in vielen Städten erleben, darunter London, Avignon, Rio de Janeiro oder Zürich.

Die Geburt der brasilianischen Kunstmusik

Heitor Villa-Lobos verbindet die Alte und die Neue Welt
Die Frage liegt nahe, was die 255 Bilder, die Salgado für das Konzertprojekt ausgewählt hat, mit der Musik von Villa-Lobos verbindet. Der Fotograf hatte den brasilianischen »Nationalkomponisten« erst spät für sich entdeckt, verwies aber im Interview auf das gemeinsame Interesse für die Besonderheiten der Natur und Kultur im Amazonas-Gebiet: »Der Komponist Villa-Lobos hat mit den lokalen Gemeinschaften des Regenwalds zusammengelebt. Manchmal ist er für Monate verschwunden, und man dachte schon, er sei tot. Aber er lebte und teilte das Leben dieser Menschen, sammelte Klänge und passte sich an die Umgebung an.« Tatsächlich gibt es einige tolle Geschichten über die Ausflüge des jungen Villa-Lobos in den Regenwald – einmal soll er sogar mit knapper Not einem Stamm von Kannibalen entkommen sein. Allerdings stammen die Berichte vor allem vom Komponisten selbst, und nach seriöser Einschätzung dürfte er etwas übertrieben haben, um den indigenen Anklängen in seiner Musik die nötige Authentizität zu verleihen.

Die Folklore bin ich!

Heitor Villa-Lobos

Unbestritten ist, dass Heitor Villa-Lobos der Kunstmusik in Brasilien als einer der Ersten eine nationale Identität gab. Als er 1887 in Rio de Janeiro in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren wurde, dominierte in den Salons und Theatern der Hauptstadt noch die klassische Musik aus Europa. Nach dem frühen Tod seines Vaters verdiente Villa-Lobos als Cellist seinen Lebensunterhalt nicht nur in Kinos und Kaffeehäusern, sondern auch in kleinen Straßenbands. Hier lernte er die »chôros« kennen, populäre und rhythmisch einprägsame Nummern im Stil von Tico-Tico, die Villa-Lobos in seinen eigenen Chôros mit weiteren brasilianischen Musikstilen anreicherte. Auch die Musik der Indigenen spielte dabei eine Rolle. Allerdings hat er sie wohl weniger bei seinen eigenen Amazonas-Reisen notiert, sondern aus zeitgenössischen Musiksammlungen kopiert oder gleich selbst erfunden – nach seinem Motto: »Die Folklore bin ich!«

Spiel der Stile

Heitor Villa-Lobos’ Bachianas Brasileiras
Auf Drängen des Pianisten Artur Rubinstein – er gehörte zu den frühen Bewunderern des Brasilianers – kam Villa-Lobos 1923 erstmals nach Paris, ein zweiter Besuch folgte in den Jahren 1927–30. Weitere Europareisen wurden nach dem Militärputsch des diktatorisch agierenden brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas verhindert. Villa-Lobos arrangierte sich mit dem Machthaber, schrieb patriotische Lieder und kümmerte sich als Kulturbeauftragter um die musikalische Bildung in Brasilien. In der Zeit der Diktatur bis 1945 entstand auch die Reihe der Bachianas Brasileiras, neun Suiten für verschiedene Besetzungen. In der Barockzeit und speziell bei Johann Sebastian Bach gebräuchliche Formen wie Toccata, Choral oder Fuge werden in diesen subtilen, delikat instrumentierten Schöpfungen mit brasilianischen Musiktypen konfrontiert und verschmolzen. Die Bachianas Brasileiras gehören heute nicht nur zu den populärsten Stücken von Villa-Lobos. Sie waren auch ein wichtiger Schritt in Richtung einer brasilianischen Nationalmusik, die sich in der europäischen Tradition handwerklich »absicherte«. Die vierte der Suiten wurde 1930 für Klavier konzipiert und mehr als zehn Jahre später für Orchester bearbeitet, das im heutigen Konzert erklingende Prelúdio nur für Streicher.

In einer Zeit, in der klassische Musik sich vor allem um individuelle Emotionen und Dramen drehte, erkannte Heitor Villa-Lobos, dass auch die Natur eine Stimme hat – und dass sie singt.

Simone Menezes
Von der Leinwand in den Konzertsaal

Floresta do Amazonas – eine gewaltige Sinfonie des Urwalds
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte Heitor Villa-Lobos seine Karriere wieder international ausweiten. Seine Produktivität war schwindelerregend, allein in den Nachkriegsjahren komponierte er bis zu seinem Tod (1959) acht Streichquartette, fünf Klavierkonzerte und sechs Sinfonien, mehrere Ballettmusiken und seine bedeutendste Oper Yerma nach dem Drama von Federico García Lorca. Nach dem Vorbild der Académie Française gründete Villa-Lobos 1945 die »Academia Brasileira de Música«, um das Musikleben und die Musikforschung im Lande zu fördern. Der Akademie verdanken wir einige sorgfältige Neuausgaben seiner Werke, darunter die seiner Kantate Floresta do Amazonas (Der Amazonas-Wald), aus der heute Abend eine Suite erklingt – zu Amazonas-Fotografien von Sebastião Salgado.

Liebeswirren im Dschungel
Auch die Musik von Villa-Lobos war ursprünglich für Bilder gedacht. Die Produktionsfirma Metro-Goldwyn-Mayer beauftragte den Komponisten mit der Musik zum Hollywood-Streifen Green Mansions (deutscher Titel: Tropenglut) von 1959. In dieser Urwald-Geschichte flieht der Sohn eines Ministers aus Venezuela (gespielt von Anthony Perkins) nach einem politischen Umsturz in den Dschungel und verliebt sich in die Indigene Rima (Audrey Hepburn), was zu Komplikationen mit den Ureinwohnern führt. Hepburns Ehemann Mel Ferrer führte Regie, doch trotz des Staraufgebots geriet der Film zum kolossalen Flop.
Villa-Lobos erhielt für seine Musik ein fürstliches Honorar, doch wurde sie für den Film radikal gekürzt und von einem Arrangeur neu orchestriert. Um seine Partitur zu retten, arbeitete der Komponist sie zu einem großen konzertanten Epos für Solosopran, Chor und Orchester um, für das die brasilianische Dichterin und Diplomatin Dora Vasconcellos einige Texte beisteuerte – darunter die beiden populärsten Gesangsnummern, Canção do amor (Liebeslied) und Melodia sentimental, die Villa-Lobos mit der Figur der Rima im Film verband.

Zart und wild
Floresta do Amazonas avancierte in Brasilien bald zu einem nationalen Hymnus: Die schillernde Musiktradition des Landes vom städtischen Chôro bis zu den Liedern und Tänzen der Indigenen, die Beschwörung heimischer Naturmythen und die Imitation von Vogelstimmen verbinden sich mit der Schule der Bach’schen Kontrapunktik, mit französischem Klangsinn und den Formexperimenten der Vorkriegs-Moderne. Atemberaubend ist Villa-Lobos’ Palette an Orchesterfarben: Zahlreiche südamerikanische Schlaginstrumente schaffen nicht nur rhythmische Energie, sondern auch etliche Naturlaute. Neben einem Sopran- und Altsaxophon setzte Villa-Lobos Klavier, Gitarre und das Solovox ein, ein frühes elektronisches Instrument, im Klang der Hammondorgel ähnlich. Aus den 23 Nummern dieser zugleich zarten und wilden Musik hat die Dirigentin Simone Menezes für das Amazônia-Projekt eine elfsätzige Suite für Sopran und Orchester zusammengestellt, in der sie auf die Nummern mit Chorbeteiligung verzichtet.

Im heutigen Konzert wird die Musik von Villa-Lobos durch ein zwölfminütiges Stück, zu dem Philip Glass bei einer Brasilien-Reise inspiriert wurde. Damals machte Glass die Bekanntschaft mit der Musikgruppe Uakti und ihrem ganz eigenständigen Klang, der zum großen Teil von selbstgebauten Instrumenten herrührt. Für Uakti komponierte Glass zu Beginn der 1990er Jahre eine Ballettmusik, die später für die CD Águas da Amazônia noch durch den Satz Metamorphosis 1 ergänzt wurde. Die heute Abend gespielte Orchesterbearbeitung stammt von Charles Coleman.

Michael Struck-Schloen

 

 

Michael Struck-Schloen, geboren 1958 in Dortmund, studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte. Er arbeitet als freiberuflicher Autor für Zeitungen Fachzeitschriften und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Vielen Hörern des WDR ist er auch als Moderator bekannt.