» ...als sei für uns eine Tür aufgegangen«

Was passiert in einem Orchester, wenn es keine Konzerte geben darf? Dem durch die Corona-Pandemie erzwungenen Stillstand begegnete das Projekt GO Triptychon mit einer musikalischen Collage: Der Komponist Philipp Matthias Kaufmann entwickelte zusammen mit Bildregisseur Johannes von Barsewisch und 36 Musikern des Gürzenich-Orchesters eine Bild- und Tonkomposition – das Portrait eines Orchesters im Lockdown, ein aufregendes Dokument ungebrochener Kreativität und Gemeinsamkeit in Zeiten unfreiwilliger Distanz. Ein Gespräch mit Philipp Matthias Kaufmann, der Harfenistin Antonia Schreiber und dem Bratscher Vincent Royer.

Wie kam es zu dem Projekt Triptychon?

Philipp Matthias Kaufmann Der Corona-Lockdown Anfang März hat uns alle eiskalt erwischt. Alles brach zusammen. In meinem persönlichen Bestreben, mich künstlerisch mit dieser neuen Situation auseinanderzusetzen, baute ich aus den Buchstaben der Krankheit SARS, also Es – A – Re [=D] – Si [=H] eine Tonfolge. Ich filmte, während ich sie mit Gummihandschuhen auf dem Klavier spielte. Denn ich hatte vor, das als eine Art musikalische Keimzelle in den virtuellen Raum zu schicken. Dann wollte ich mit ein paar Freunden eine funkige Nummer für Violoncello und eine Band daraus machen. Die gibt es inzwischen auch im Netz zu sehen. Während der Arbeit daran kam ich auf eine neue Idee: Es wäre doch toll, wenn man auf eine ähnliche Art ein Orchester, das durch den Lockdown nicht mehr spielen kann, wieder aktivieren, die Musiker neu miteinander verbinden und zusammenbringen könnte. Daraus entwickelte ich ein Konzept, das dann auch rasch vom Orchester, von Stefan Englert und von François-Xavier Roth angenommen wurde: Musik zu schaffen, die von vorne herein für das Internet konzipiert ist, die auch in zehn Jahren noch Gültigkeit hat und die zugleich die Musiker wieder aktiviert.

Triptychon ist also ausdrücklich nicht für eine Live-Aufführung gedacht, sondern für die Verbreitung im Internet ...

Philipp Matthias Kaufmann Genau! Die Hygiene-Auflagen waren, dass beim Musizieren und Aufnehmen nur maximal fünf Personen im Raum sein durften. Bevor wir also begannen, wurde im Orchester herumgefragt, wer denn überhaupt Lust hätte, bei dem Projekt mitzumachen. Die insgesamt 36 Musiker, die sich meldeten, fanden sich in Eigenregie zu Gruppen zusammen. Da gab es unterschiedliche Kriterien, wer mit wem spielt. Ich gab lediglich Anregungen, beispielsweise zu ungewöhnlichen Kombinationen.

Antonia Schreiber Wir hatten uns ja als Orchester seit dem letzten Abo-Konzert, das als »Geisterkonzert« stattfand, nicht mehr gesehen, durften nicht mehr spielen. Plötzlich kam dann diese Idee, das war natürlich großartig. Ich persönlich hatte Lust, nun mal mit Leuten kammermusikalisch zusammenzuspielen, mit denen ich das normalerweise nicht kann, weil es einfach für diese Instrumenten-Kombinationen keine Literatur gibt. Die Verbindung von Harfe mit Blechblasinstrumenten zum Beispiel fand ich spannend. Da wurde ich aber schon von Kontrafagott und Kontrabass angesprochen, absolut cool, wir nahmen dann noch eine Posaune und ein Fagott dazu, und schon war unsere Gruppe komplett! Dass wir uns also ganz neu aufstellen mussten, das war wirklich auch eine große Chance für uns in der Krise.

Philipp Matthias Kaufmann Von Anfang an war mir klar, dass die Mitglieder des Orchesters selbst ganz starken Einfluss auf die Komposition nehmen müssen. Das ging so weit, dass beispielsweise Vincent Royer und Tom Owen völlig frei improvisierten, also sozusagen ohne große Eingriffe von mir »an der langen Leine« arbeiteten. Die Grundidee war also, die Menschen, die beteiligt sind, auch ganz persönlich mit dem, was sie da tun, zu verbinden.

Vincent Royer Es ergab sich für Tom Owen und mich, dass wir nur zu zweit in einer Gruppe waren. Improvisation ist für uns beide eine Leidenschaft, die wir in unterschiedlichen Formationen in der freien Szene ausleben. Wie Philipp Matthias Kaufmann auf jeden einzelnen von uns Individualisten eingegangen ist, war sehr beglückend. Das ist eine Erfahrung, die man im normalen Orchesterbetrieb nicht so oft macht. Diese kreativen Gestaltungsmöglichkeiten, gerade in dieser Situation der Ungewissheit, sind ein besonderes Geschenk! Kreativer Input, den man erhält in einer Zeit, in der jeder nach neuen Wegen sucht.

Philipp Matthias Kaufmann Die Musiker nahmen nicht nur meinen Input auf, sie teilten auch ihre eigenen Empfindungen und Gedanken mit mir. Beispielsweise verzichteten wir komplett auf diesen Loop aus den Buchstaben SARS. Den zu verwenden widerstrebte Vincent sehr.

Warum wolltest Du das nicht?

Vincent Royer Man kennt ja in der Musik solche Buchstaben-Verschlüsselungen. Das beste Beispiel: B-A-C-H. Und das ist ein erhabenes Monument. Töne sind Vehikel für Inhalte. Besonders in der momentanen Zeit, wo die allgemeine Negativität, die Angst weltweit so stark spürbar sind, möchte ich mich nicht in einer symbolischen Form mit der Krankheit Covid kreativ verbinden. Daraus folgt für mich eine Notwendigkeit der Abgrenzung. Aus diesem Grund brauche ich nicht auch noch eine symbolische Verstärkung in einer Reihe ja an sich neutraler Töne. Der andere Weg wäre freilich gewesen, durch den Einschluss gerade dieser SARS-Töne eine Art von »Exorzismus« zu praktizieren. Das war aber nicht meine Haltung.

Philipp Matthias Kaufmann Ich konnte das total gut nachvollziehen! Und jetzt bin ich so froh, dass wir darauf verzichtet haben, denn nun ist die Komposition zeitlos.

Wie seid Ihr dann weiter vorgegangen?

Philipp Matthias Kaufmann Ganz lange wusste keiner der Beteiligten genau, was passieren würde. Bis zu einem Gruppen-Zoom, den ich mit den einzelnen Gruppen geführt habe, konnten die Einzelnen nicht präzise einschätzen, was auf sie zukommen würde. In diesem Zoom sprachen wir ausführlich über die individuellen Zugänge zu Musik, über persönliche Vorstellungen – und das war schon unglaublich spannend, was für unterschiedliche Ansätze es da gab. Manche wünschten sich ganz präzise, konkrete Vorgaben, manche freuten sich über die kreativen Freiheiten, die sie sich hier erhofften. Zwischen diesem Gespräch und der ersten Aufnahme lag die sehr kurze Spanne von zwei Wochen. Ich musste also in dieser Zeit die neun Miniaturen, aus denen das Triptychon zusammengesetzt ist, komponieren. Das nenne ich jetzt mal die »Kompositionsphase 1«.

Und dann erst sahen die Musiker die Stücke – und sollten sie sofort aufnehmen?

Philipp Matthias Kaufmann Ja. Es gab nur ein paar Tage für die individuelle Vorbereitung. Dann kamen die Aufnahmetage, und danach folgte »Kompositionsphase 2«: Aus dem ganzen Material, also den Video-Takes von drei Kameras an zwei Aufnahmetagen, pro Ensemble 90 Minuten, und den Tonspuren schufen Johannes von Barsewisch, unser Film-Regisseur, und ich, teils auch mit kleinen elektronischen Veränderungen, in einem längeren Prozess das Endergebnis.

Es war also so, dass die Musiker nicht durchgehend an dem Projekt beteiligt waren. Sie brachten zunächst ihre Kreativität ein, daraus erwuchs dann das, was wir heute erleben können.

Philipp Matthias Kaufmann Genau, das eigentlich Hörbare, die Komposition des Ganzen entwickelte sich erst nach dieser Phase des Spielens und Aufnehmens. Im Vorfeld, als ich wusste, wie die Gruppen zusammengesetzt sein würden, arbeitete ich grafisch. Ich machte mir A3-Bilder mit Flächen, Punkten, dynamischen Verläufen und strukturierte so meine eigenen kreativen Prozesse. Eigentlich bin ich ja eher Arrangeur, und ich holte mir auf diese Weise durch die Musiker Stoff, den ich bearbeiten konnte.

... alles fühlte sich so an, als sei es ganz persönlich auf einen zugeschnitten.

Antonia Schreiber

Wie sah denn das Material aus, das die Musiker dann in die Hände bekamen?

Antonia Schreiber Das waren schon ganz normale Noten. Allerdings konnten wir diese Vorlagen stark durch unsere eigenen Ideen beeinflussen. Ich machte zum Beispiel Vorschläge, wie gewisse Passagen auf der Harfe besser klingen, welche Spieltechniken besser geeignet wären, und Matthias ging darauf ein.

Vincent Royer Tom Owen und ich, die wir ja improvisierten, hatten kein Material. Wir waren der Meinung, dass es für unsere Improvisation besser ist, gar nichts vorzubereiten und uns intuitiv auf die Situation bei der Aufnahme einzulassen. Wir wollten also unmittelbar aus dem Augenblick schöpfen, eine spontane Komposition Gestalt werden lassen. Es ging uns um Frische, um Momente kreativer »Zündungen«.

Hatte das für Dich, Vincent, auch in gewisser Weise eine spirituelle Komponente?

Vincent Royer Ich würde sagen: eine geistige. Das Wort »spirituell« kann ja in sehr viele verschiedene Richtungen interpretiert werden. Es ging mir um Offenheit. Dass wir uns frei machen von Geplantem und uns im Augenblick zu uns selbst führen lassen. Nach außen hören – und gleichzeitig nach innen lauschen. Wohin führt uns der Klang? Wenn es uns gelingt, den Fluss des Klanges zu leben, sogar zu zelebrieren, entsteht ein sehr beglückendes Gefühl auf einer kostbaren, schöpferischen Ebene.

Eine Situation der Enge, in der sich plötzlich kreative Räume öffnen: Das ist es, was uns so sehr dankbar macht.

Vincent Royer

Philipp Matthias Kaufmann Wir sprachen zwischendurch mal über Dramaturgie. Aber ich fand es besonders faszinierend, bei Vincent und Tom diesen unglaublichen Willen zu erleben, in sich hineinzuhören und dieses Gehörte dann nach außen zu transportieren.

Wie fühlt man sich als Orchestermusiker, der ja im Alltag sehr strengen Vorgaben gerecht werden muss, mit so viel kreativer Freiheit?

Antonia Schreiber Ich kenne diese Freiheit schon auch aus dem Orchester. Beispielsweise in der Oper: Man hört einen Sänger, und man spielt, folgt, lässt sich mittragen, wird klanglich inspiriert. Bei diesem Projekt nun wünschte sich unsere Gruppe eher Klangbilder – und eine eindeutig lebendige, tänzerische Komponente. Ich ganz persönlich wollte weg vom Klischee der Harfe, wollte voluminöse Akkorde. Aber auch bei uns gab es Raum für freie Improvisation.

Philipp Matthias Kaufmann Ich hatte mir selbst im ersten Schritt die Maßgabe auferlegt, dass das im Mittelpunkt sein soll, was bei den Musikern, also im Orchester geschieht. Ich sah mich da lediglich als eine Art Verstärker. Wenn mir also jemand sagte, diesen Klang oder jenen Stil möchte ich unbedingt auf meinem Instrument darstellen, so war es meine Aufgabe, genau das aufzunehmen und zu entwickeln. Daraus entwickelten sich für mich ganz wichtige Momente: Es waren nicht die Orchestermusiker, die sich sozusagen hinter der Komposition eines anderen verbergen konnten, sondern es ging um die individuellen Empfindungen und schöpferischen Impulse des Einzelnen.

Es gibt ja in Tryptichon auch musikalische Zitate von Bach und Schumann. Wer brachte die ein?

Philipp Matthias Kaufmann Das war ein augenzwinkernder Kunstgriff von mir selbst, da sprach sozusagen der Arrangeur in mir. Für mich passte beispielsweise das Air von Bach einfach zu dem Teil, in dem es um Luft und Atem geht. Es ging andererseits auch bis zu einem gewissen Grad an genau dieser Stelle um Verfremdung, um das Einbringen eines kontrastierenden Elements. Die Idee des Schumann-Zitats, das man beim Streichtrio hört, kam aus der Gruppe selbst. Es ist die Fanfare aus der »Rheinischen Sinfonie«, die ja auch als Pausenzeichen in der Philharmonie erklingt, und der Bratscher sagte, für ihn sei es ein Gefühl von Zuhause, wenn er dieses Motiv höre.

 

Die Titel der drei Stücke bestehen aus Wortpaaren: Bewegung und Ruhe, Luft und Atem, Nähe und Distanz.

Philipp Matthias Kaufmann Es geht natürlich dabei unmittelbar um die Corona-Situation und um Zustände, in die sie uns führt. Auch da brachten sich die Musiker ganz individuell ein. So wurde zum Beispiel die ursprüngliche Version »Atem und Beklemmung« aufgrund persönlicher Erfahrungen kategorisch abgelehnt. Das konnte ich voll und ganz nachvollziehen. Und »Bewegung und Ruhe« hieß zunächst »Bewegung und Stillstand«. Doch warum, fragte jemand. Immerhin ist das momentan auch eine Zeit zum Innehalten, zum Nachdenken. Auch hier kann man sehen: Ich gab eine Vorlage, und aus den individuellen Rückmeldungen entstand dann das Ergebnis.

Antonia Schreiber Gerade das mit Luft und Atem, damit hat unsere Situation ja gerade wirklich viel zu tun: Eine Atemwegserkrankung, die sich über die Luft überträgt, die uns auch im sprichwörtlichen Sinn die Luft zum Atmen nimmt.

Vincent, Du nennst Euren Beitrag »La Nébuleuse du Croissant«, das ist ein Begriff aus der Astronomie, ein sogenannter Emissionsnebel im Sternbild Schwan. Es geht um kosmischen Wind, um Materie-Verwirbelungen, auch um die Geburt neuer Sterne.

Vincent Royer Mich interessierte der Begriff der Dimension an sich, die Klangreise. Wir wollten in den Bereich der Obertöne, der Multiphonics [die Erzeugung von mehr als einem Ton gleichzeitig auf dem Instrument durch spezielle Spieltechniken] vordringen. Gleichzeitig wünschten wir uns, der Lebendigkeit von Mikrostrukturen innerhalb eines Klanges näher zu kommen. Das ist ein Thema, was mich ganz persönlich schon ganz lange begleitet. Daraus entstand die Idee einer »kosmischen Reise«. Es geht also ganz allgemein um die Thematik des Raumes, der Luft – und damit auch um die Herausforderungen durch die Krankheit.

Tom Owen und Du, Ihr spielt ohne Schuhe ...

Vincent Royer Ein Zeichen für eine Verankerung, für eine enge körperliche Verbundenheit mit der Erde. Und wir bewegen uns ja auch beim Spielen im Raum, da war das hilfreich – nicht zuletzt wegen der Geräuschreduzierung während der Aufnahme.

Hat Euch Musiker dieses Projekt auch individuell in dieser Zeit auf neue Wege gebracht?

Antonia Schreiber Ich empfand es als total beschwingend und befreiend, mit den anderen Kollegen zusammenzuspielen. Wieder gemeinsam Musik zu machen, das war so belebend. Aufeinander zu reagieren, sich vom anderen inspirieren und auch in der eigenen Leistung anspornen zu lassen. Und dann natürlich dieses Individuelle ... alles fühlte sich so an, als sei es ganz persönlich auf einen zugeschnitten.

Vincent Royer Mich hat das sehr erfrischt, ich bin enorm dankbar für diese positiven Inhalte. Diese Möglichkeit, klanglich Stellung zu nehmen. All das verstärkt meine Achtung vor dem Willen des Orchesters, neue Wege zu gehen, verkrustete Strukturen hinter sich zu lassen. Deswegen war diese Arbeit hier nun ein wirklich traumhaftes Signal dafür, dass ein solches Projekt der Freiheit auch in unserer Struktur willkommen ist, dass auch noch für neue Visionen Platz ist. Ein Zeichen ist natürlich auch, dass so viele Musiker des Orchesters sich gemeldet haben, um bei dem Projekt mitzumachen: Es waren 36!

Antonia Schreiber So schwer die Situation ist, wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Wenn dann solche Projekte entstehen, so ist das so enorm wertvoll. Jeder Einzelne ist gefordert und zugleich gefördert. Gerade wenn wir in kleineren Besetzungen wie zur Zeit spielen, ist doch jeder viel solistischer gefragt. Das führt weg von der Routine. Es war bei Triptychon so, als sei für uns eine Tür aufgegangen. Wir hoffen, dass wir uns dieses Gefühl auch für die Zukunft bewahren können.

Vincent Royer Eine Situation der Enge, in der sich plötzlich kreative Räume öffnen: Das ist es, was uns so sehr dankbar macht.

Interview: Volker Sellmann

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