»Präsent sein!«

Ulrike Schäfer, Solo-Cellistin

Ulrike, die kommenden Konzerte tragen den Titel »Lebensträume«. Welche Assoziationen hast Du dazu?

Ich hatte lange Zeit keine Lebensträume, denn ich konnte sie mir nicht leisten. Das hat mit der Geschichte zu tun, wie ich zum Cello kam. Der gemeinsame Fokus meiner Eltern war nämlich, mich, ihr einziges Kind, zu fördern. Das geschah auch wirklich, allerdings für mich zu einem wahnsinnig hohen Preis. Deswegen hatte ich über viele Jahrzehnte auch ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Cello. Früher habe ich es sogar bedauert, dass ich sehr begabt war, denn deswegen konnte ich aus dieser Lage nicht entkommen. Als ich sieben Jahre alt wurde, lag das Cello auf meinem Geburtstagstisch, allerdings hat mich keiner gefragt, ob ich das überhaupt will. Mein Vater liebte das Cello, ich hatte schon immer große Hände, also war klar: Die Tochter spielt Cello. Ab da also ging es los, ich wurde intensiv gefördert und hatte von Anfang an Privatunterricht bei Kurt Engert in München. Meine Mutter war jedes Mal dabei, auch beim täglichen Üben, und an fünf von sieben Tagen in der Woche gab’s Tränen. Und das war wirklich nicht gut. Ich übte also so wenig, wie es irgendwie ging.

Erstaunlich, dass das bei so viel Druck funktionierte, denn Du hast ja immerhin dreimal den 1. Preis beim Bundeswettbewerb »Jugend musiziert« gewonnen ...

Ja, funktioniert hat es, aber die Freude am Spielen und am Musikmachen kam erst mit dem Bundesjugendorchester. Da habe ich dann auch andere Jugendliche kennengelernt, von denen einige Musik studieren wollten, also dachte ich, dann kannst du das auch. Gegen den Druck habe ich leider nie revoltiert, denn meine Mutter meinte ganz lapidar: Wer A sagt, der muss auch B sagen ... ohne Üben kann man nicht zu Wettbewerben fahren. Eine andere Zeit mit etwas mehr Freiheit begann dann erst, als ich mit 19 aus dem Haus ging und in London studierte. Aber so richtig Träume habe ich eigentlich erst seit etwa fünf Jahren!

Wie ist Deine Beziehung zur Musik von Berlioz?

Ich gestehe ganz offen, dass ich lange mit Berlioz auf Kriegsfuß stand. Als ich das erste Mal als Aushilfe in Barcelona die Symphonie fantastique spielte, hatte ich große persönliche Erwartungen an dieses berühmte Werk – und stand dann ratlos davor. Erst als François-Xavier Roth in Köln mit seiner Berlioz-Pflege begann, entstand auch in mir etwas Neues, ich fing plötzlich an, diese Musik zu lieben! Ich begann, mich mit Berlioz zu beschäftigen, ich hörte viel von ihm, las auch seine Memoiren, wollte einfach in seine Welt eintauchen. Vor allem die Ouvertüre zu Les Francs-Juges fand ich traumhaft. Ich sagte dann zu Patrick Hahn, unserem künstlerischen Programmplaner, dass ich dieses herrliche Stück so gerne irgendwann einmal spielen würde. Und nun geht dieser Wunsch tatsächlich in Erfüllung! Ich habe das große Glück, dass ich alle Berlioz-Werke im Programm des Gürzenich-Orchesters spielen durfte und darf. Angefangen mit Benvenuto Cellini, dann die Ouvertüre zu Le corsaire, L’Enfance du Christ, Harold en Italie und eben die grandiose Francs-Juges-Ouvertüre, später dann noch die Oper Béatrice et Bénédict. Wunderbar!

 

Was spricht Dich an Berlioz so sehr an?

Die Faszination, die Berlioz auf mich ausübt, hat mit dem Thema »Mut« zu tun. Mutig sein – das ist für mich unglaublich wichtig geworden. Und zwar in jeder Hinsicht. In der Kommunikation, in der Umsetzung von Entscheidungen. In dieser Hinsicht war Berlioz wirklich enorm mutig! Aus seinem engen persönlichen Kästchen herauszukommen, aus dem tradierten Lebensumfeld, das man hat und gewohnt ist, auszubrechen, auch mal neue Fragen zu wagen, all das ist für mich heute von großer Bedeutung. Die persönliche Komfortzone ist der Anfang vom Ende. Den Horizont zu erweitern, das ist die eine Sache. Aber diese Erweiterung dann auch aktiv ins Leben einfließen zu lassen, das ist das Entscheidende. Und dazu benötigt man eben oft Mut, muss über seinen Schatten springen.

Kannst Du bei Berlioz diesen Mut auch tatsächlich hören?

Ja, auf jeden Fall. Und ich denke, das ist auch der Grund, warum ich mit ihm so lange eben nichts anfangen konnte. Er passte nämlich in mein auf Sicherheit gebürstetes Lebenskonzept mit dem daraus resultierenden tradierten Hörschema überhaupt nicht hinein. An Benvenuto Cellini habe ich so viel geübt wie an keiner anderen Oper. Ich wollte einfach wirklich jeden Ton so spielen, jede Dynamikbezeichnung präzise so erfüllen, wie sie notiert ist. Berlioz war für mich eine totale Herausforderung, denn er sprengt innerhalb seiner Zeit jegliche musikalische Tradition – und damit auch die Hörerfahrung. Er ist da mit keinem anderen Komponisten vergleichbar. Nach Berlioz kann ich süchtig werden!

Hat Berlioz das Violoncello in besonderer Weise behandelt?

Meiner Meinung nach nicht. Ich denke, Berlioz ist eine Herausforderung für jedes Instrument. Er hat Musik geschrieben und sie den Instrumenten gegeben. Seine Werke sind unglaublich toll orchestriert, so enorm farbenreich. Er brannte dafür, was er ausdrücken wollte. Dabei hat er sicherlich keine Rücksicht auf die Komfortzonen der Musiker genommen [lacht].

Was zeichnet für Dich die Zusammenarbeit mit François-Xavier Roth aus?

Seine Probenarbeit ist deswegen so wunderbar, weil er über eine unglaubliche Partiturkenntnis verfügt. Ich bin jetzt in meinem 37. Berufsjahr, und ich habe überhaupt kein Interesse mehr an Mainstream-Interpretationen. Wenn ich so etwas merke, bin ich mit meinem Kopf sofort weg. François-Xavier Roth hingegen hat diese unglaubliche Neugier und Disziplin, immer wieder zu der Frage zurückzukehren: Wie war es zu der Zeit, als ein Komponist ein Werk geschrieben hat? Was war neu, was war aufregend, was entsprach nicht den Hörgewohnheiten? Roth legt immer wieder neu den Fokus auf die Suche nach dem Willen des Komponisten, er hat ein tiefes Bedürfnis, ihm gerecht zu werden. An Dirigenten, die das Hörbare dirigieren, also so, wie man die Stücke eben kennt, bin ich nicht mehr interessiert. Herauszufinden, wie lebendig die Musik ist, macht doch einen wirklich guten Musiker aus. Und diese Lebendigkeit liegt sehr oft eben unterhalb der Oberfläche. Genau das ist mit François-Xavier Roth so beglückend. Die Sängerin Dalia Schaechter war mit mir 2018 in der Generalprobe zur 5. Sinfonie von Beethoven mit François-Xavier Roth, und danach sagte sie: ›Wo war denn diese Musik die ganzen Jahre versteckt?‹. Dieser Satz bringt es für mich auf den Punkt! Mit Roth entdecke ich die Stücke neu, für mich ist es ein Geschenk, so zu arbeiten. Wenn ich vorher einen Traum hatte, dann war es, Musik so zu machen. Das ist für mich wie Sauerstoff!

Hast Du vor einem Konzert persönliche Rituale?

Nicht wirklich. Grundsätzlich sichte ich gerne vorher nochmals das Material, gehe die Stücke am Instrument noch einmal durch. Wenn ich dann aufs Podium gehe, versuche ich, mit großer Freude so intensiv und vor allem so wach wie möglich in der Musik zu sein. Präsenz – das ist für mich in meinem Leben so erstrebenswert wie kaum etwas anderes. Präsent sein im Moment des Tuns. Denn mit Wachheit ist auch zwangsläufig Offenheit verbunden.

Gibt es für Dich Wunschstücke, die Du unbedingt noch spielen möchtest?

Nun, ich bin ja bereits beschenkt, denn jetzt kommt mein Wunschstück, die Ouvertüre zu Les Francs-Juges. Außerdem freue ich mich sehr darüber, dass ich in diesem Jahr erstmals Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann spiele. Das ist für mich ein Riesengewinn, mit dem ich nicht mehr gerechnet hätte, denn das ist ja keine gängige Repertoire-Oper. Und ansonsten ist mir mit François-Xavier Roth jedes Stück willkommen.

Hat Dich Dein Weg als Musikerin auch als Mensch verändert?

Beim ersten Hineinfühlen würde ich Nein sagen. Ich ging ja lange mit dem inneren Programm durchs Leben, einfach überleben zu müssen. Aber 2015 spürte ich zum ersten Mal, dass Musik Trost sein kann. Das ist eine Art von Luxus, den ich vorher so nicht kannte. Diesen inneren Freiraum hatte ich nicht.

Was tust Du, um Dich wieder aufzurichten, wenn Du in einer Krise bist?

Aus meiner heutigen Perspektive kann ich dazu zwei Dinge sagen: Zum einen haben wir selbst immer die Wahl, auf was wir unsere Aufmerksamkeit legen. Wenn ich etwas erlebe, was mich negativ berührt, sollte ich mich fragen, ob ich meine Konzentration wirklich darauf fokussiere – oder ob sich auch etwas anderes finden lässt, womit ich wieder eine Lebendigkeit in mir spüren kann. Zum anderen möchte ich einen Satz von Viktor Frankl zitieren: Wenn etwas passiert, haben wir die Wahl, wie wir reagieren! Und das stimmt, wir haben immer eine Wahl. Wenn jemand wie Frankl, der im KZ war, das erkennt, könnte das doch auch für uns in unserem sicheren, harmlosen Leben eine gute Anregung sein! Früher habe ich diese alten Sprichwörter gehasst: ›Jeder ist seines Glückes Schmied‹. Aber es stimmt nun einmal. Ich kann mich auf negative Dinge einschießen. Oder aber ich kann versuchen, das, was ich gerne in der Welt sehen möchte, in meinem Umfeld selbst zu leben. Ein Stein, den man ins Wasser wirft, schlägt Wellen, die sich tendenziell unendlich ausbreiten. Da kann Musik ebenfalls ein Mittel sein.

Glaubst Du, dass Musik unsere Gesellschaft verändern kann?

Auf jeden Fall! Musik berührt etwas ganz Kostbares im Menschen. Viele spüren genau dieses Kostbare aber nicht mehr oft. Es geht dabei nicht um Antrainiertes, sondern um eine tiefere Ebene. Dieses Kostbare hat eher eine leise Qualität. Ich bin überzeugt davon, dass genau das mit Musik in den Menschen erreichbar ist. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir Musiker in Kindergärten, in Schulen gehen. Wir müssen versuchen, die Kinder, die jungen Menschen zu erreichen. Nicht um sie zu indoktrinieren, sondern um ihnen einen Kontakt zu sich selbst zu ermöglichen. Etwas, das wertvoll ist, das für sie so wertvoll werden darf, dass sie es in ihrem Leben nicht mehr missen möchten. Dieses Kostbare in jedem Menschen, nennen wir es Seele oder wie auch immer, ein Staunen, eine gewissen Ehrfurcht in sich zu spüren, das halte ich für wichtig.

Wie sieht Dein Leben abseits des Orchesters aus?

Ich höre viel Musik. Wieder. Jahrzehntelang habe ich das nicht gemacht. Außerdem bin ich wahnsinnig gerne in der Natur. Vielleicht sollte ich es so sagen: Früher hatte ich wahrscheinlich mehr Leben jenseits der Musik. Aber jetzt, wo ich so in die Musik eintauche, füllt sie mich mehr aus, als es das Leben vorher tat. Hunger nach Musik. Das ist es: Ich habe Hunger nach Musik – mehr denn je!

Das Gespräch mit Ulrike Schäfer führte Volker Sellmann.

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